Turandot. Verwandlungen einer orientalischen Prinzessin.
Beiträge zum Radiokolleg von Nadja Kayali und Michaela Schierhuber
ORF Ö1  17., 18.,19. April 2018 jeweils 9:45 Uhr und 22:08 Uhr
http://oe1.orf.at/programm/20180416

Vill Turandot ORF Takes

Beiträge von Susanne Vill zu den Themen:
Die Exotismusmode um die Jahrhundertwende und in Puccinis „Turandot“.

Turandot im Vergleich mit Puccinis Frauenfiguren.

Archetypen in dramatischen Konfrontationen: die Jungfrau – die Große Mutter (einer Nation) – der Held in der Fremde – Drachenkampf – die Hochzeit von Himmel und Erde.

Puccinis „Vivisektion der Seele“ in  „Turandot“ mit Richard Wagners Siegfried und Brünnhilde, Tristan und Isolde als Vorbilder für die innere Verwandlung.
Zur Glaubwürdigkeit von Turandots Wandlung von der Prinzessin „cinto di gelo“ zur liebenden Frau:

  • Ihr Stolz wird gebrochen, als Calaf ihre Rätsel löst.
  • Sie muss ihre Unterlegenheit eingestehen und fürchtet, ihr „Gesicht zu verlieren“.
  • Mit ihrem Tauschhandel – Heirat gehen Rätsellösung – hat sie sich selbst objektifiziert und muss nun die Konsequenz ihres Handelns ertragen.
  • Mit der Bitte an ihren Vater, sie vor der Einlösung ihres Versprechens zu verschonen, erniedrigt sie sich vor ihm und dem Volk – eine weitere Demontage ihres Stolzes.
  • Calaf bietet ihr mit dem Gegenrätsel die Chance, ihr Gesicht zu wahren.
  • Dass sie seinen Namen suchen muss, zwingt sie, ihren Egoismus zu durchbrechen und ihn wahrzunehmen.
  • Liùs Opfertod konfrontiert Turandot mit einer selbstlosen Liebestat. Darin erlebt sie eine andere Einstellung zu Männern als die von der Angst vor Vergewaltigung geprägte, die das Schicksal ihrer Ahnin Lou Ling auslöste. Liùs Liebestod lässt sie Hingabe erfahren.
  • Turandots Verwandlung bewirkt nicht der Kuss und sein Hormonfeuerwerk, sondern Calafs Hingabe an sie: Er legt sein Leben in ihre Hände und zeigt ihr so, dass er sie nicht dominieren oder vergewaltigen, sondern hoch schätzen wird.
  • Calafs Umarmung bietet ihr in ihrer Niederlage und Schuld auch Trost. Sie vermittelt ihr wortlos, dass sie und ihr Reichtum nicht nur als Trophäe begehrt, sondern als Mensch geliebt und beschützt wird.

Tony Palmers „Turandot“ Inszenierung in Glasgow 1983 und sein Film Puccini (UK 1984) zeigen Identifikationen der Opernfiguren mit Personen und Ereignissen aus Puccinis Biografie: Calaf – Puccini, Turandot – Elvira Puccini, Liù – Doria Manfredi, das Dienstmädhcen der Puccinis, das wegen Elviras Verleumdung Selbstmord beging.

Ergänzungen des Opernfragments:

  • Finale von Franco Alfano (1926; 1978 wiederentdeckt )
  • Kürzung dieses Finales durch Arturo Toscanini für die Uraufführung (1926)
  • Neues Finale von Luciano Berio (2002).

Calixto Bieito inszenierte das unvollendete Fragment „Turandot“ 2014 in Nürnberg.

Zhang Yimou inszenierte die Aufführung vor dem Kaiserpalast der Verbotenen Stadt in Peking 1998 mit dem Opernensemble des Maggio Musicale Fiorentino und chinesischen DarstellerInnen.

Marco Arturo Marelli inszenierte die Oper mit dem Finale von Alfano 2013 in Stockholm, 2014 in Graz, 2015 bei den Bregenzer Festspiele, 2016 an der Wiener Staatsoper mit Palmers biografischen Analogien.

Luciano Berios neues Finale 2002 (konzertante UA in Las Palmas, szenische UA in Los Angeles;  Amsterdam; Salzburger Festspiele).
Berios Version ist leiser als die von Franco Alfano auskomponierte triumphale Schlussgloriole, scheint jedoch Puccinis Intentionen wesentlich näher zu kommen. Berio greift Puccinis Turandot-Stil auf mit seiner Pentatonik, Ganztonstrukturen, chinesischen Melodien, Ostinati, Orgelpunkten, Quintbordun, Mixturen, der Instrumentierung mit Lokalkolorit und dauernden Dur-Moll-Wechseln, die die Tonalität zur Atonalität hin öffnen. Berio bringt Puccinis Zeitgenossenschaft mit Alexander Zemlinsky, Franz Schreker und Richard Strauss ins Spiel, seine Komposition weiß, dass sich Puccini eingehend mit Debussys Aufweichung der Tonalität mittels musikalischem Exotismus beschäftigt, dass er Strawinsky gehört und eine Aufführung von Arnold Schoenbergs Pierrot lunaire in Florenz besucht hatte. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts steht Berio bei differenzierter Wahrnehmung von Puccinis Intentionen auch zu einem Bruch mit dessen Klangsprache.
Sein Finale legt Turandots allmähliche Wandlung offen. Ein langes Orchesterzwischenspiel macht ihre innere Zerrissenheit, die Scham der Kapitulation und die neue Faszination der Macht der Liebe erlebbar. Darin zeigt sich Wagner als Vorbild, der die Wirkung des Trankes bei Tristan und Isolde als Zwischenspiel musikalisierte. Mit Berios Zusätzen dringt auch die durch die Emanzipation der Dissonanz geschärfte, höhere Differenzierungsfähigkeit der Musik des späten 20. Jahrhunderts in Puccinis Partitur ein. Die Entfaltung von Turandots Liebe geschieht in hörbarer Auseinandersetzung mit ihrer Schuld am Tod so vieler Freier und Liùs. Die Unsicherheit ihrer seelischen Öffnung für eine neue Einstellung zu ihren Mitmenschen lässt nur eine vorsichtige Annäherung zu, in der die Angst vor der Gewalt nachzittert, mit der die Etablierung der Macht von Fremden in der Geschichte Chinas stets verbunden war. Der Verzicht auf alle triumphalen Gesten im leisen Ausklang der Oper lässt etwas ahnen von Berios Skepsis gegenüber dem Liebesduett in Alfanos Finale, in dem das Liebesglück – nach Liùs Selbstmord – nicht gebrochen erscheint.